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Wo?

Wo auch immer seine Frau ihn hier hin getrieben hatte; er hasste es hier. Diese ewig freundlichen Menschen, die ihm das Gefühl gaben, als könne er seine eigene Hand nicht mehr heben. Seine Frau – wo war die eigentlich? Er war sich sicher, dass sie es ihm gesagt hatte, aber wie so oft in letzter Zeit hatte er sich dagegen entschieden, ihr zuzuhören.

Ihre quitschend-zillernde Stimme hatte ihn schon immer ein bisschen genervt, aber anfangs bildetete er sich ein, sich daran gewöhnen zu können. Als dann die Zeit kam, nach der es üblich war, um ihre Hand anzuhalten, hatte er ihre Stimme als wenig legitimen Grund gesehen, sie zu verlassen. Außerdem empfand er es schon immer als anstrengend, neue Menschen kennenzulernen.

Jetzt wo er so darüber nachdachte, hatte er es eigentlich ganz gut mit seiner Frau. Sie hatte nie den Wunsch geäußert, ein Kind mit ihm zu bekommen. Das schätzte er sehr an ihr. Schließlich empfand er das Führen seines eigenen Lebens bereits als unbeschreiblich mühsam.

Er atmete tief durch. Weiterhin in dem Versuch versunken, herauszufinden, wo er sich hier eigentlich befand, versuchte er die letzten Tage und Stunden zu rekonstruieren. Das fiel ihm irgendwie schwerer in letzter Zeit.

Er konnte sich jedoch entsinnen, dass ihn seine Frau vor einigen Wochen eindringlich darum gebeten hatte, mit ihr in diesen Urlaub zu fahren. Er meinte zumindest, dass es dieses Wort war, das sie verwendet hatte. Da es ihm im Grunde egal war, wo er seine Bücher las, hatte er stumm nickend zugestimmt und sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung zugewandt. Doch jetzt hatte er sein aktuelles Buch abgeschlossen und wusste nicht, wo seine Frau den Nachschub verstaut hatte. Das war ein Problem. Doch diese unendlich freundlichen Fratzen um ihn herum, schienen ihm keine Hilfe zu sein.

„Wo ist meine Frau?“, hörte er sich selbst ein bisschen zu aufgeregt fragen. Verschwommen nahm er die verwirrten Gesichter der Menschen um ihn herum wahr.

„Ihre Frau?“, hörte er ein dumpfes Seufzen auf sein Trommelfell treffen.

Ja, seine Frau. Die hatte er doch gerade gesucht. Warum verstand das niemand von diesen unpersönlichen Schemen?
„Meine Frau. Wo ist meine Frau?“, er rang nach Luft.
„Lesen. Ich will einfach nur lesen“, versuchte er erneut verzweifelt, sich verständlich zu machen.

Zufrieden mit seiner Erklärung, wunderte er sich, nicht die gewünschte Reaktion hervorzurufen. Dies wurde noch durch das plötzliche Berühren seiner Hand verstärkt.
„Papa! Papa!“, drang nun plötzlich die Stimme seiner Tochter in sein Bewusstsein.

Seine Tocher… Die hatte er vergessen.

Er wunderte sich kurz, doch dann sah er plötzlich alles ganz klar: Das Krankenhaus-Zimmer, seine Tochter, der Arzt. Und auf dem Kittel aufgenäht das Logo der Demenz-Klinik.

Ein Tag der Idylle

Der Tag begann mit dem Aufgehen der Sonne. So wie immer, eigentlich. Doch trotzdem spürte er, das heute etwas anders war als an den letzten Morgenden, als er den Blick über das Tal vor ihm geworfen hatte. Es war als würde die Ankunft seiner Gattin in 2 Tagen bereits heute seine Schatten voraus werfen.

Peter ließ den Blick über die wiesengrünen Täler und Hügel schweifen, die sich scheinbar bis ins Unendliche vor ihm erstreckten. Er beobachtete, wie in der Ferne ein Vogelpaar ein Tanz aufführte, der sich frei von Beobachtern wähnte. Durch die Entfernung war es Peter kaum möglich, die beiden Tiere auseinanderzuhalten, doch das unbeschwerte Treiben zeichnete ihm ein Lächeln auf die Lippen. Er hob seine Tasse und nahm einen klangvollen Schluck daraus. Etwas, dass er liebte, doch in Anwesenheit anderer Personen zu vermeiden versuchte. Schließlich galt er als Mann von hohem Stand, der entsprechende Manieren aufzuweisen verpflichtet war.

Peter leerte die Tasse in seiner rechten Hand und schritt langsam aus dem Schein der immer wärmer werdenden Sonne zurück. „Auf, auf zum frohen Schaffen“, dachte er sich, als er sich auf dem Weg zur Küche aufmunternd im Spiegel zunickte. Er wollte heute den 2. Satz seines Klavierkonzertes beenden und ahnte, dass es ihm einiges an Mühe kosten würde, dem Klavier wohlklingende Melodien abzutrotzen.

 

Im ungefähr 30 Meilen entfernten Oberschwaibach verließ in etwa zur gleichen Zeit Sophia das Haus. Sie nahm ihrem Pagen die ohnehin nur leicht gepackte Reisetasche ab und eilte damit zu der vor ihrem Haus wartenden Kutsche. „Los jetzt, Andrej. Wir dürfen keine Zeit verlieren!“, rief sie ihn mit einem herzerwärmenden Strahlen entgegen und öffnete dabei zeitgleich die Kutschentür. Andrej brauchte einen Moment, um sich von seiner Perplexität zu lösen und folgte ihr dann unversehens.
„Welcher Teufel hat Sie denn heute gestochen, Frau Lindmann?“, fragte er ein bisschen zu vorlaut und biss sich heimlich auf die Zunge.
„Jeder Tag sollte mit der Freude eines Kindes zu Weihnachten begonnen werden“, entgegnete sie und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Andrej und Thomas, der Kutschier, warfen sich ob der ungewöhnlichen Euphorie ihrer Chefin einen vielsagenden Blick zu, bevor Thomas die Kutsche mit einem beherzten Zügelschlag in Bewegung setze.

Der Weg führte die Reisegemeinschaft durch verschlafene Dörfer und aufgeweckte Wald-Landschaften. Die Sonne streichelte die im lauen Wind wiegenden Gräser und zeichnete das Bild des ersten Sommertages des Jahres. Selbst die Pferde schienen an diesem Tag frei von Sorgen zu sein.

 

Zurück in ihrem Landhaus hatte sich Peter vor seinem Klavier eingefunden. Er versuchte nun schon seit über drei Stunden die ideale Begleitstimme für sein Stück zu finden, doch irgendwie fühlte sich keine der durch seine Finger erzeugten Tonfolgen richtig für ihn an. Er seufzte und entschied sich, einen kleinen Spaziergang durch das angrenzende Dorf zu machen, um auf neue Gedanken zu kommen. Ausgestattet mit Hut und Wanderstock öffnete er die Vordertür des Hauses und trat in die milde Bergluft. Der Wind umspielte ihn mit den ihm so vertrauten Gerüchen aus seiner Kindheit. Hier an der Schwelle der Tür vermischten sich die Lockstoffe der Frühlingsblüher mit dem Geruch des frisch geschlagenen Holzes des nahegelegen Waldes. Peter ließ sich dazu hinreißen, seine Augen theatralisch zu schließen, um die Wirkung seiner anderen Sinne zu stärken und hörte nun auch den rhythmischen Schnabelschlag eines in der Ferne arbeitenden Spechts. Mit prall gefüllten Lungen öffnete Peter die Augen und schritt dem vor ihm liegenden Weg entschlossen entgegen. Mit einem letzten Blick zurück versicherte er sich, dass er die Tür verschlossen hatte und entschied sich, dem Weg in Richtung der anderen Häuser zu folgen.

Unten im Dorf angekommen, grüßte er freundlich jeden, den er auf der Straße traf. Er mochte zwar nicht jeden persönlich kennen, doch da die meisten der Dorfbewohner bereits hier lebten, als er gerade geboren wurde, wollte er einen unhöflichen Affront vermeiden. Er wusste, dass seiner Mutter die Verbundenheit mit den Dorfbewohnern immer wichtig gewesen war, auch wenn sie ihres Standes wegen Niemandem ein freundliches Wort schuldig waren. Doch genau wie Peter war es auch seiner Mutter unangenehm gewesen, ihrer Stellung wegen hofiert zu werden, was nicht zuletzt der Grund für die große Beliebtheit der Lindmanns war.

„Guten Tag, Herr Lindmann. Was macht die Arbeit?“, riss ihn der Müller aus seinen Gedanken.
„Das Klavier will heute nicht so, wie ich will.“, antwortete Peter. „Und selbst?“
„Bei diesem Wetter geht das Arbeiten fast von alleine.“, lachte er und schulterte einen Getreidesack auf, der beinahe seinen gesamten Oberkörper verdeckte.

Ihr kurzes Gespräch an der Weggabelung hatte weitere Dorfbewohner dazu ermutigt, anzuhalten. Eine ältere Dame mit weißem, schütternen Haar strahlte ihn herzlich an: „Gott schütze Sie, Herr Lindmann. Ich hoffe, Sie erfreuen sich weiterhin bester Gesundheit. Wie geht es Ihrer Frau?“
„Vielen Dank. Gottes Schutz sei auch mit Ihnen. Meine Frau wird in zwei Morgen anreisen. Ich bin voller Hoffnung, dass es ihr weiterhin gut geht.“
Die ältere Dame lächelte sichtbar zufrieden und sprach nun mehr zu sich als zu Peter: „Ja, ja. Die schöne Frau Lindmann. Ihr Fernbleiben macht unseren Musiker ganz traurig.“

Gerade als sich Peter ertappt fühlen wollte, bemerkte er die Unruhe weiter unten im Dorf. Mit einem geschmeidigen Kopfnicken und dem Zurechtrücken seines Hutes deutete er eine stumme Verabschiedung an und nähert sich den langsam lauter werdenden Tumult. Er meinte, ein Pferdeschnauben und die aufgeregte Stimme ihres Kutschiers Thomas ausmachen zu können, was ihm die für ihn typischen Sorgenfalten auf die Stirn trieb.

Als er wenig später um die nächste Wegbiegung schauen konnte, erkannte er sie: die Kutsche ihrer Familie, vor der Thomas wild gestikulierend mit einem Dorfbewohner diskutierte. Noch ehe er ein Wort ihrer Unterhaltung entschlüsseln konnte, fiel seine Aufmerksamkeit auf die sich langsam öffnende Kutschtür. Mit dem rechten Fuß voraustastend verließ Sophia vorsichtig die Kutsche und blickte dabei besonnen über die sich ihr bietende Szene. Ihr blaues Kleid wiegte sich ruhig im Wind, doch Peters Blick verharrte allein auf den Haaren seiner Frau. Die zu einem losen Dutt gesteckten Strähnen waren so zersaut, wie sie es immer waren, wenn Sophia geschlafen hatte. Peter liebte nichts mehr als diesen Anblick früh am Morgen.

„Sophia!“, rief er und rannte auf sie zu.
„Peter?“, fragte Sophia ins Ungewissene und suchte die Umgebung vor sich ab.

Als sich ihre Blicke trafen, hatte Peter sie fast erreicht und sie fielen sich in die Arme.
„Welch Freude, dich zu sehen, liebste Sophia. Doch sag, was treibt dich heute schon zu mir? Deinem Brief entnahm ich, dass deine Ankunft erst am Mittwoch geplant sei. Was ist der Grund für die Änderung deiner Reisepläne? Es ist doch hoffentlich nichts passiert?“
Sophia lächelte und strich Peter eine Strähne aus dem Gesicht.
„Nein. Also doch, aber…“, sie zog ihn in Richtung der Lichtung neben dem Feldweg, um sich der immernoch rege geführten Diskussion etwas zu entziehen.

Noch ehe sie sich hingesetzt hatten, konnte Sophia die Neugikeiten nicht mehr für sich behalten:“Ich bin.. schwanger!“, platzte es aus ihr heraus und große Tränen bahnten sich den Weg über ihre Wange. „Der Arzt hat es bestätigt. Wir kriegen ein Kind, Peter! Ich bin so..“, doch ihre Stimme brach mittem im Satz ab.
Peters sorgenvoller Ausdruck war einem Gesicht vollkommener Entzückung gewichen und er hatte nun Schwierigkeiten, einen klarer Gedanken zu fassen. Seit ihrer Heirat vor nun mehr als 2 Jahren wünschten sich die beiden nichts sehnlicher als ein eigenes Kind. Sie hatten schon allerlei Ärzte konsultiert, die den beiden jedoch stets versicherten, dass mit ihnen körperlich nichts zu beanstanden sei. Nach Monaten voller Hoffnung und Enttäuschungen war das, was Sophia da gerade ausgeprochen hatte, kaum zu glauben.

Da er das Gefühl hatte, seine Empfindungen nicht in Worte fassen zu können, nahm Peter Sophia wortlos in den Arm und strich ihr zärtlich durch das zerzauste Haar. Er spürte Sophias Herzschlag an seinem Körper und schaute gedankenverloren zu den Ausläufern des wenige Meter entfernten Waldstücks. Dort ganz vorne glaubte er die zwei Vögel wiederzuerkennen, dessen Spiel er bereits am Morgen interessiert beobachtet hatte. Nun wurden die Bewegungen jedoch spürbar langsamer. Peter beobachtete, wie sich die beiden Tiere auf einem Ast niederließen und für einen kurzen Moment schien es, als würden sie ihm direkt in die Augen schauen.

Wir jagen die Sonne

Leerer Raum

„Wolkenmeer, komm nicht her. Ich mag die Sonne doch viel mehr. Gutes Wetter, Sonnenschein. So sollen alle Tage sein.“

Alte Wortspielereien zu lesen, versetzte ihn immer wieder in ein merkwürdiges Gefühl zwischen Stolz und leichter Beschämung. Er selbst mochte die Sätze ganz gern, wie sie da zu Papier gefunden hatten, aber niemals würde er sie anderen aufzwingen wollen.

Er klappte sein altes Sketchbook zu und schaute in die Leere seiner Wohnung. Der Umzug war nun fast abgeschlossen, nur sein alter Schuhkarton mit den kostbarsten Erinnerungen trennte die Wohnung nun noch vom optimalen Übergabezustand. Er verspürte eine leichte Wehmut, wenn er an all die Ereignisse dachte, die er hier erlebt hatte: Der Gewinn der WM 1990, den sie bis in die Morgenstunden gefeiert hatten; die Geburt seiner ersten Tocher, die so plötzlich kam, dass sie es nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft hatten. Und schließlich, vor gerade mal einer Woche, der Anruf der Polizei, die ihn darüber informierte, dass seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Augenzeugen zufolge habe sie auf der Mitte der Kreuzung die Orientierung verloren und wurde in ihrer Starre von einem unachtsamen Autofahrer erfasst. Sie starb direkt am Unfallort. „Immerhin musste sie nicht leiden“, dachte er sich und seufzte.

Während er in Gedanken verloren in die leeren Räume seiner Vergangenheit schaute, betrat seine Tochter schweigend die Wohnung. Sie stellte sich neben ihn und legte ihre Hand vorsichtig auf seine Schulter. „Bist du soweit?“, fragte sie leise, fast flüsternd. „Mhm.“, bejahte er murrend. Sie setzen sich langsam in Bewegung. Ihm lief eine Träne über die Wange, als er realisierte, dass er nie wieder einen Fuß in die Wohnung setzen würde, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte. Nun würde er das letzte Mal ein neues Kapitel beginnen, dachte er.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte seine Tochter, fast rechtfertigend: „Wir haben doch aber ein schönes Altersheim ausgesucht“, und wandte sich ab, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Er blieb stumm und ein letzes Mal auf der Türschwelle stehen. Er blickte zurück und dann, ganz langsam, schloss er die Tür und folgte seiner Tochter ins Auto.