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Hoffnung

Der laufende Spaghetti-Kopf

Oskar hatte eine blühende Fantasie. Jeden Abend, bevor er seine Zähne putzte, schrieb er die besten Erlebnisse seines Tages auf. Diese Gewohnheit hatte er sich von seiner Großmutter abgeschaut. Diese Technik sei der Grund gewesen, warum sie über 100 Jahre alt geworden war – das wurde seine Großmutter zumindest nicht müde zu wiederholen. Während Oskars Eltern dabei immer ihre Augen verdrehten, liebte es Oskar, die Geschichten seiner Großmutter zu hören. „100 Jahre“, hatte er sich gedacht, „100 Jahre, so alt möchte ich auch werden.“ Also nahm er sich vor, sich ein Beispiel an seiner Großmutter zu nehmen.

Er versuchte das gleiche zu essen, nutzte das gleiche Shampoo und einmal hatte er sogar versucht, seine Zähne vor dem Schlafen aus dem Mund zu nehmen, um sie über Nacht in einem eigens dafür aus der Küche geholten Glas einweichen zu lassen. Auch wenn er lernen musste, dass das nicht klappte, hatte er große Freude daran, seiner Großmutter nachzueifern. Seine liebste Angewohnheit war jedoch das tägliche Zurückschauen auf den Tag. Seine Mutter hatte ihm dafür extra ein kleines Notizbuch gekauft, das er in dem Geheimversteck unter seinem Bett aufbewahrte. Jeden Abend, wenn er sich ganz sicher war, dass ihn niemand dabei beobachtete, holte er das Notizbuch und seinen Lieblingsstift hervor. Er blätterte dann jede Seite einzeln nach vorn und freute sich darüber, dass seine Schrift der seiner Großmutter immer ähnlicher wurde. Dann begann er zu schreiben: „Heute habe ich zwei Jungs auf dem Spielplatz gesehen, die ich vorher noch nie gesehen habe. Wir haben zusammen Ball gespielt. Auf dem Rückweg habe ich mit Mama Eis gegessen.“ Zusätzlich hatte er sich angewöhnt, zu jedem Tag ein kleines Gesicht zu malen. Da ihm das Schreiben so viel Spaß machte, malte er nur fröhliche Gesichter in sein Buch.

Wenn er fertig war und sein Notizbuch wieder sicher verstaut hatte, lief er die Treppe nach unten. Jedes Mal, wenn er unten angekommen war, stand seine Mutter schon neben der Treppe und begleitete ihn ins Bad. Er wusste nicht, wie sie das machte; egal, wie schnell oder leise er versuchte, die Treppe nach unten zu steigen – sie war immer schon dort. Nach dem Zähneputzen bestand er darauf, dass ihn seine beiden Eltern ins Bett brachten. An guten Tagen, trug ihn sein Vater sogar die Treppe nach oben. Er liebte dieses Gefühl und stellte sich dabei immer vor, er würde die Treppe hinauf fliegen.

So vergingen Tage und Wochen. Jeden Tag wurde Oskars Notizbuch wieder etwas voller. Bald schon würde er ein neues benötigen, dachte er sich eines Abends. Er nahm sich vor, seine Großmutter bald zu fragen, wie ihr Vorgehen für neue Notizbücher war. Er wusste nicht, woher seine Mutter das erste hergenommen hatte und wollte lieber sichergehen, dass er mit dem zweiten nichts falsch machte. Er plante, vor dem Schlafen seine Mutter zu fragen, wann sie seine Großmutter das nächste Mal besuchen würden. Er fand es immer noch ein bisschen komisch, dass sie umgezogen war. Ihre alte Wohnung hatte sie eingetauscht gegen ein viel kleineres Zimmer. Dort roch es irgendwie eigenartig und sie hatte nicht einmal mehr eine eigene Küche! Als sie das erste Mal dort waren, hatte ihm seine Oma nicht geantwortet, wieso sie umgezogen sei. Dabei war die Erklärung doch ganz einfach: Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass seine Großmutter in ihrem neuen Zuhause mit mehr Menschen in ihrem Alter zusammen sein kann. Das konnte er verstehen. Er mochte es auch am meisten, mit Freunden in seinem Alter zu spielen. Die Erstklässler fand er kindisch und die Drittklässler waren gemein. „Das ist ja dann fast ein bisschen wie Ferienlager für Oma!“, hatte er seinen lächelnden Eltern freudig entgegengerufen. „Ja, fast“, hörte er sie antworten, während er aus dem Fenster schaute und sich vorstellte, zusammen mit seinen Freunden in einem Haus zu wohnen.

„Mama? Wann besuchen wir Oma wieder?“, fragte er seine Mutter am Abend. „Wir wollen am Sonntag in den Zoo und danach fahren wir zu Oma. Freust du dich schon?“
„Au ja. Und auf den Zoo freue ich mich auch. Vielleicht sehen wir ja Löwen!“. Seine Mutter lachte. Oskar schaute konzentriert und sagte dann: „Bis Sonntag sind es ja nur noch drei Tage!“ Er hätte sein Notizbuch am liebsten sofort noch einmal hervorgeholt, um die guten Neuigkeiten festzuhalten, aber er wollte sich den Platz lieber sparen. Außerdem war seine Mutter ja immer noch im Raum und er durfte sein Geheimversteck nicht offenbaren. An diesem Abend schlief Oskar voller Vorfreude ein und träumte von Löwen und Tigern.

Am nächsten Tag erzählte er all seinen Freunden, dass er am Sonntag in den Zoo gehen würde. Er konnte es kaum abwarten und da er all seine Lieblingstiere auf seinem Block malte, konnte er sich nicht wirklich auf den Unterricht konzentrieren. Er wünschte sich, dass er heute ausnahmsweise früher nach Hause gehen könnte. Mitten in der Mathestunde kam dann plötzlich Frau Willenstein in das Klassenzimmer und sagte, dass Oskars Mutter da war, um ihn abzuholen. Das musste sein Glückstag sein! Freudig packte er seine Federmappe und seine Hefte ein und ging durch die Reihen des Klassenzimmers nach vorne. Frau Willenstein sah traurig aus, dachte er sich. Er war jedoch viel zu aufgeregt, um weiter darüber nachdenken zu können. Er fragte sich, wieso ihn seine Mutter jetzt schon abholte. Das letzte Mal, als er so früh aus der Schule abgeholt wurde, war er krank. Doch dieses Mal war er gar nicht krank. Im Gegenteil; er fühlte sich richtig fit! Vor allem jetzt, wo er wusste, dass er nach Hause konnte. Vielleicht hatte sich der Plan ja geändert und sie würden heute schon in den Zoo und zu seiner Oma fahren? „Das würde vielleicht ein Eintrag in seinem Notizbuch werden!“, dachte er und überlegte, ob er an solchen besonders tollen Tagen auch mehr als ein fröhliches Gesicht malen könnte. Das würde er am besten nachher gleich seine Großmutter fragen.

Als Oskar seine Mutter sah, rannte er freudig auf sie zu. Sie hob ihn hoch und er spürte, dass ihre Wange feucht war. Er wunderte sich, weil es gar nicht geregnet hatte. Vielleicht hatte sich seine Mutter gerade das Gesicht gewaschen? Er hörte, wie sie Frau Willenstein fragte, ob sie noch etwas unterschreiben musste. „Das ist schon okay, Frau Merz.“
Frau Willenstein schaute Oskar noch einmal mit ihrem traurigen Gesicht an und verabschiedete sich dann. Als sie nicht mehr zu sehen war, fragte Oskar ganz aufgeregt, wieso seine Mutter ihn schon so früh abgeholt hatte. Seine Stimme überschlug sich dabei fast, als er ausführen wollte, ob sie vielleicht schon heute in den Zoo gehen würden.

„Wir besuchen deine Oma“, Oskar lächelte, „Sie ist gestürzt und ist jetzt im Krankenhaus.“
„Oh nein, die Arme!“, dachte sich Oskar. Er erinnerte sich daran, wie er einmal im Sportunterricht gestolpert war und sich sein rechtes Knie aufgeschlagen hatte. Er durfte damals für eine ganze Woche nicht mehr mit seinen Freunden draußen spielen. Aber Oma spielte ja ohnehin nicht so viel draußen. Vielleicht könnten ja ein paar von ihren Freunden aus ihrer neuen Wohnung sie im Krankenhaus besuchen kommen.

Auf der Fahrt zum Krankenhaus redeten Oskar und seine Mutter nur wenig. Oskar war noch nie in einem gewesen und malte sich aus, wie es dort wohl aussehen würde. Von den anderen aus seiner Klasse hatte er mitbekommen, dass Menschen dort hingingen, wenn sie krank waren und dann gesund wieder zurückkamen. Er stellte sich vor, wie dort vielleicht Magier oder Roboter aus der Zukunft arbeiten würden.

Als sie dort ankamen, war Oskar etwas enttäuscht. Die Menschen dort sahen ganz normal aus. Nur manche von ihnen hatten lange, weiße Jacken an. Das musste eine Art Uniform sein, auch wenn Oskar sie etwas langweilig fand. Während er an der Hand seiner Mutter lief, schaute er sich neugierig um. Sie bogen mehrmals ab, aber irgendwie sah in diesem Haus alles gleich aus. Allerdings öffneten sich alle Türen vor ihnen automatisch, was Oskar beeindruckte. Als sie noch ein letztes Mal rechts abbogen, sah er seinen Vater, der auf einem Stuhl saß. Seine Eltern umarmten sich. Oskar schaute auf die Tür vor ihnen und versuchte den Ursprung dieses merkwürdigen Piepens ausfindig zu machen. Er schaute an den Wänden entlang, bis ihn seine Mutter antippte und sich neben ihn kniete.
„Möchtest du zu deiner Oma gehen?“, fragte sie leise. Sie erklärte ihm, dass seine Oma sehr erschöpft sei und sie sich jetzt viel ausruhen musste. Deswegen konnten sie nicht lange zu ihr ins Zimmer. Er nickte und freute sich darauf, von seiner Oma in den Arm genommen zu werden. Seine Mutter öffnete die Tür vor ihnen und das Piepen wurde plötzlich lauter.

In dem Raum sah er eine alte Frau, die wie seine Großmutter aussah. Sie lag in einem hohen Bett, um das er ganz viele kleine Fernseher angebracht waren. Vor ihrem Gesicht hatte sie etwas, das wie ein durchsichtiger Strohhalm aussah. Oskar packte die Hand seiner Mutter etwas fester und ging langsam nach vorn. Als er näher zum Bett kam, sah er ein Lächeln auf den Lippen seiner Großmutter, doch sie blieb stumm. „Hallo Oma“, sagte er leise und sie nickte langsam mit dem Kopf. Seine Mutter hatte recht gehabt, sie sah wirklich sehr müde aus. „Du kannst deiner Oma die Hand halten, wenn du magst“, flüsterte seine Mutter Oskar ins Ohr. Er ging nach vorn und legte seine Hand auf die seiner Großmutter. Sie ergriff seine Hand und versuchte sich etwas aufzurichten.
„Du brauchst nichts sagen, wenn es anstrengend ist, Oma. Wir können auch später reden!“
Seine Oma drückte seine Hand nun nochmal etwas fester. Es fühlte sich ein bisschen an als wäre ihre Hand aus Sand.

Während Oskar die Hand seiner Großmutter hielt, hörte er, wie sein Vater über einen Arzt sprach und darüber, was dieser gesagt hatte. Oskar verstand davon nicht viel, aber wie immer wirkte es so, als wüsste sein Vater alles, was es zu wissen gäbe. Er lächelte seine Großmutter an und fragte sich, wann sie wohl wieder in das Haus mit den anderen alten Frauen gehen würde. Nach einer Weile verabschiedeten sie sich von seiner Großmutter und er fuhr mit seiner Mutter nach Hause. Sein Vater wollte noch etwas dort bleiben. Wahrscheinlich brauchten sie dort jemand so schlauen wie Oskars Vater.

Als sie zuhause angekommen waren, war es draußen schon dunkel. Sie aßen noch etwas und dann folgte Oskar seiner abendlichen Routine. Er war erschöpft von den vielen neuen Eindrücken und schlief schnell ein, auch wenn er es schade fand, dass sein Vater ihn nicht ins Bett bringen konnte.

Als Oskar am nächsten Morgen aufwachte, sah er seine beiden Eltern in seinem Zimmer. Er lächelte, doch sie erwiderten sein Lächeln nur zaghaft.
„Was ist denn los, Mama?“, fragte er.
„Oskar, deine Oma“, sie stoppte und schaute zu Oskars Vater. „Deine Oma ist letzte Nacht eingeschlafen. Weißt du, manchmal wenn alte Leute einschlafen, vor allem, wenn sie schon über 100 Jahre alt sind, dann haben sie nicht mehr die Energie, aufzuwachen. Deine Oma hat sich dazu entschieden, für immer weiterzuschlafen.“
Die Stimme von Oskars Mutter brach ab. Oskar merkte, wie er plötzlich ein schweres Gefühl auf seiner Brust spürte. Fast als würde sich jemand auf ihn setzen, aber dort war niemand.

„Was passiert jetzt mit Oma?“, fragte Oskar leise. Seine Eltern schauten erst sich und dann wieder ihn an. Seine Mutter atmete tief ein und antwortete dann: „In der kommenden Woche werden wir eine Feier veranstalten, zu der alle von Omas Freunden kommen werden.“
„Aber warum feiern wir, wenn Oma nicht mehr da ist?“, fragte Oskar verwundert.
„Wir kommen zusammen, damit sich alle Menschen, die Oma kannten, von ihr verabschieden können. Das ist ein besonderer Tag, an dem alle Gäste nur an deine Oma denken. Man sagt, dass man ihr die letzte Ehre erweist.“

„Ehre“, das hatte Oskar schon einmal in einem Cowboy-Film gehört. Er wusste nicht genau, wie das mit seiner Oma funktionierte, aber er vertraute seinen Eltern. Sie wussten in allen Situationen die richtige Lösung.
An diesem Tag unternahmen sie nichts. Oskars Papa musste zwischendurch noch einmal ins Krankenhaus, aber Oskars malte fast den ganzen Tag. Er malte und dachte nach. Jedes Mal, wenn er etwas nicht verstand, fragte er seine Mutter. Sie konnte ihm alles erklären, aber er war immer noch so traurig darüber, dass er seine Großmutter nicht mehr sehen würde. Ein paar Mal am Tag versuchte er sogar heimlich, sich zu zwicken, weil er dachte, dass er in einem Traum gefangen war, doch er wachte nicht auf.

Am Ende des Tages aßen Oskar und seine Eltern Abendbrot. Danach ging er in sein Zimmer und holte sein Notizbuch aus seinem Geheimversteck. Er öffnete es, aber spürte nicht das übliche Glücksgefühl, das er damit verband. Er hatte immer schöne Sachen in dieses Buch geschrieben, aber heute, wusste er nicht, was er schreiben sollte. Er war sehr traurig und überlegte, was seine Großmutter wohl an einem solchen Tag in ihr Buch geschrieben hätte. Da er keine Antwort wusste, entschloss er sich, einfach das aufzuschreiben, was er gerade dachte:

„Heute war ein komischer Tag. Mama und Papa haben mir gesagt, dass Oma nicht aufgewacht ist. Sie haben gesagt, dass das manchmal passiert, wenn Menschen über 100 Jahre alt sind. Heute ist nicht schönes passiert. Ich weiß nicht, wie ich mich heute fühle oder worüber ich mich freuen soll. Alles ist irgendwie durcheinander. Ich fühle mich wie ein laufender Spaghetti-Kopf.“

Er wusste nicht, was er weiter schreiben sollte. Bei dem Anblick der Gesichter neben den Einträgen der letzten Tage, entschloss sich Oskar für den heutigen Tag ein trauriges Gesicht mit Spaghetti-Nudeln zu malen. Er hoffte, bald wieder fröhliche Gesichter malen zu können.

All the lonely people

Ich schaue mich um und sehe all die einsamen Menschen. Der Vater, ein Ohr gefangen am Telefon, eine Lippe erklärt dem Sohn die Welt. In ihm nichts als Leere und die Erinnerung an den Glauben an den einen großen Sinn. Vorüber gleiten, schweigend ins Gespräch vertieft, zwei Ewiggestrige, die sich sehnen nach einem Früher, das es so niemals gegeben hatte. Einem Früher, das voller Verheißung steckte und die ach so düstere Gegenwart umso blasser erschienen ließ.

Die zwei Dyaden kreuzen sich in diesem Moment, unwissend vom Leiden der jeweils anderen, doch mit der tief verwurzelten Überzeugung, die schlechteren Karten vom Schicksal erhalten zu haben. Ein Moment, der das Leben aller Beteiligten aufwirbeln, ihre Lebenswege grundlegend umstruktuieren könnte. Doch er verstreicht und nichts passiert. Eine weitere Chance bleibt ungenutzt, der eigenen Passivität eine Aktion abzutrotzen. Der eigenen Hilflosigkeit Zukunftsoptimismus entgegenzusetzen.

Ich schaue mich um und sehe all die einsamen Menschen. Die WG-Mitbewohner gefangen zwischen Verbundenheitsgefühl, Weltschmerz und Einsamkeit. Die Wohlhabenden, die sich zwar alles leisten können, aber verlernt haben, das zu begehren, was sie bereits haben.

Ich schaue mich um und sehe all die einsamen Menschen. Doch niemand sieht mich. Vor Jahren gestorben, begraben mit meinem Namen, doch niemand, der meiner gedachte. Ich Eleanor, Sinnbild der Einsamkeit, will euch zuschreien, euch von euren selbsterlegten Fesseln zu befreien. Will euch schütteln, den Blick von dem zu lösen, was unverändlich ist und Energie in das zu stecken, was Zukunft verspricht.

Wo ist es hin, das kindliche Streben nach Verbundenheit, nach Gemeinschaft? „Jeder braucht Freunde, aber keiner mag mehr Menschen“ scheint das Mantra dieser Zeit geworden zu sein. Einer Zeit, in der das eigene Selbstbild so fragil geworden ist, dass es einzig durch Abgrenzung aufrechtzuerhalten ist. In der Fremde und Unheil gleichgesetzt und Andersdenkende als Scharlatane abgetan werden. In einer Zeit, in der Menschen nicht danach bewertet werden, wohin sie streben, sondern woher sie kommen. In einer Zeit, dessen Welt so sehr in Bewegung ist, dass sich immer mehr Leute finden, denen Stillstand und Rückschritt lieber ist. Immer mehr Tugenden wie Zuversicht und Hoffnung als unreale Lügenkonstrukte einer manipulierten Obrigkeit sehen und sich stattdessen an der eigenen Misere und Ausweglosigkeit ergötzen.

Dabei ist es doch gerade die Hoffnung, die uns Menschen im Kern zu dem macht, was wir sind. Ohne den Glauben an ein besseres Morgen hätten unsere Vorfahren niemals ihre Höhlen verlassen und neue Landstriche bevölkert. Ohne den fernen Schein am Horizont, wäre jegliche Motivation, neue Erforschungen zu machen, im Keim erstickt.

Ich schaue mich um und sehe all die einsamen Menschen und manchmal denke ich, sie haben vergessen, zu was der Mensch im Stande ist. Niemand scheint sich an die Hürden und Schicksalsproben zu erinnern, die unsere Art über Jahrtausende geformt haben. Eiszeiten, Krankheitsepidemiologien, Hungersnöte, Weltkriege. All das wurde überstanden, doch die Probleme unserer Zeit sind unüberwindbar? Das Leben eines jeden heute lebenden Menschen ist das Resultat von Generationen an Überlebenskämpfen, Tragödien und besiegten Widrigkeiten. Überkommenen Ängsten, getätigten Risiken und genutzten Chancen. Und obwohl es gerade ihr seid, die als Resultat dieser Verkettung von unwahrscheinlichen Entscheidungen enstanden und in diesem Moment am Leben seid, fehlt euch die Zuversicht? Fehlt euch die Kraft, an euch selbst zu glauben? Wer sollte den Herausforderungen der heutigen Zeit gewachsen sein, wenn nicht ihr, die ihr Produkt dieser jahrtausendelangen Selektion seid?

Ich schaue mich um und sehe all die einsamen Menschen. Und ja, ich verstehe euch. Ich verstehe, dass es eine beruhigende Gewissheit geben kann, der Welt eine unveränderliche Grausamkeit zu attestieren. Ich verstehe, dass es sich manchmal so anfühlt, als könnte nichts Positives entstehen, bevor nicht all der Unrat beseitigt ist. Doch jede Sekunde birgt die Möglichkeit, diesem Unrat etwas Schöneres, Bessseres entgegenzusetzen. Jeder Moment könnte der Moment sein, der die Wende einleitet. Jeder Tag könnte der Tag sein, der später in Geschichtsbücher festgehalten würde. Dazu braucht es nur einen ersten Schritt und etwas Mut; selbst wenn es nur der eines Verzweifelten ist.

Ich schaue mich um und sehe all die einsamen Menschen. Wenn es nur eines gäbe, das ich euch sagen will, dann das: So oft redet ihr von Dingen, die euch im Weg stehen, um endlich zu leben, doch dabei vergesst ihr, das genau das bereits Leben ist. Also löst euch von euren Gedanken und schreitet zur Tat. All das, was ihr braucht, steckt bereits in euch.

Was bringt die Zukunft?

Ihr ganzes Leben war schwer und gemein,
doch wie sollte es anders auch sein.
Ihre Eltern, überfordert vom eigenen Leben,
konnten ihr keine Sicherheit geben.
So tauschte die Rolle von Eltern und Kind,
ihre Jugend für immer verflüchtigt im Wind.

Ihr ganzes Leben war finster und schlecht,
doch sie sagte immer, das sei schon gerecht.
Sie sagte, jeder habe sein Päckchen zu tragen
und sie wollte sich nie darüber beklagen.
Sie nahm es hin und damit anderen ab,
doch das Gewicht machte sie schrittweise platt.

Ihr ganzes Leben war einsam und trist,
bis sie schließlich ausgebrochen ist.
Ich traf sie und nahm sie bei mir auf,
wir fühlten Schmerzen vom Lachen im Bauch.
Vertieften, was früher keinen Nebensatz füllte,
uns stockte der Atem, als wir uns enthüllten.

Ihr ganzes Leben bestand aus Routinen und Zwängen.
Sie sagt, ich kenn sie, doch: kann man sie kennen?
Kann man benennen, was keine Worte ertragen?
„Vertrau in dich selbst“, will man ihr sagen.
Was bringt die Zukunft, für sie und für mich?
Ihr Blick sagt: wir wissen es beide noch nicht.