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Leben

Ein Haus

„I feel weird inside. I don’t know the time. I don’t know if I’m alright.
Ab jetzt geht es auf Zeit, fühl mich jederzeit zum Scheitern bereit, doch kenne keinen weit und breit, der sich für sein Leben so sehr entzweit.“

Selbstreferentielle Scheiße wollte keiner mehr hören, das wusste Tommy aus eigener Erfahrung. Doch was sollte er tun, so narzistisch wie er war? Natürlich war nicht alles gut, was er schreiben würde, das war ihm selbst nur am besten klar. Doch im Innersten wusste er, dass er nur nach der Anerkennung von außen strebte. Dafür lebte, dass die Halle bebte, wenn er durch seine Wörter getragen über die Bühne schwebte. Er klebte seinen Graffito-Sticker an das Fenster gegenüber, sodass er jeden Morgen sehen konnte, dass er einen Unterschied in dieser doch ach so trostlosen Welt ausmachte.

„Hey Tommy, warum bist du eigentlich immer so melancholisch?“, fragte Sam aus der anderen Ecke das Raumes. Seine Augen verrieten, dass sein neu gefundenes Interesse an Tommys Stimmung zumindest teilweise durch den Joint in seiner Hand verursacht war. „Wegen des Vitamin Ds. Durch meine dunkle Haut und diese wenige Sonne hier in Wettin, kommt mein Körper nicht hinterher mit dem produzieren.“ Er räusperte sich. „Kennst du die Leute mit Winterdepressionen?“ Sam machte eine Bewegung, die einem Nicken gleich kam, aber auch bedeuten konnte, dass er versagte, seinen Kopf aus eigener Kraft aufrecht zu halten. „So geht es mir immer. Jeden Tag. Jede Minute.“

„That sounds like bullshit!“, säuselte Sam und nahm einen tiefen Zug von seinem Joint. „Vielleicht solltest du mal in eine vernünftige Wohnung ziehen. Deine jetzige Bude ist viel zu dunkel.“

Doch Tommy mochte seine Wohnung. Die Dunkelheit bedeutete auch, dass es selbst am wärmsten Sommertag noch erträglich kühl war und er sich seiner Liebe, der Musik, ohne Schweißperlen auf der Stirn hingeben konnte. Im Hintergrund liefen auch jetzt von ihm gebastelte Beats, die nur darauf warteten, von seinen Texten auf eine neue Stufe gehoben zu werden. Doch manchmal mochte er auch einfach die Stille, die diese Beats transportieren. Diese Unberührtheit und die<s Möglichkeit, die Musikvorlage durch seine Texte in jede Richtung zu lenken, die er wollte. Außerdem war diese stumme Musik ideal für diese Nachmittage mit Sam, an denen sie einfach nur in der Wohnung rumhingen und ihren Gedanken freien Lauf ließen. Diese Nachmittage verbreiteten eine gewisse Wärme in Tommy, die ihm Sicherheit gab und seine rasenden Gedanken etwas abbremste.

Zwei Stockwerke unter Tommy und Sam lag Lisa weinend auf dem Boden. Ihr Freund hatte sie soeben verlassen und damit ihre gesamte Welt zerstört. Sie hatten geplant, zusammenzuziehen, gemeinsam zu reisen; ja sogar über Kinder hatten sie schon im Spaß geredet. Und nun das. Ihr Freund sei zu der Einsicht gekommen, dass es zwischen den beiden doch nicht so gut passe und eigentlich, so sei ihm bewusst geworden, reise er auch gar nicht so gerne. Und zusammen wohnen würde er ohnehin erstmal weiter mit seiner WG-Mitbewohnerin, mit der er sich immer besser verstünde. „Diese kleine Bitch!“, dachte sich Lisa, die schon immer eifersüchtig auf sie war. Sie schniefte laut und wischte sich die Tränen von den Wangen. „Sollen die sich doch ficken! Dann reise ich eben allein.“ Der Gedanke daran, ließ Lisa erneut in Tränen ausbrechen und stumm in ihr Kissen schreien. Sie wusste nicht, was sie schlimmer fand: Von nun an allein zu sein oder diese ganzen mitleidigen Blicke, die sie von ihren Freunden ernten würde. Ihre Freunde, die alle schon seit Jahren ach so glücklich in ihren Beziehungen waren und Lisa immer wieder mit ihren Liebesgeschichten beistanden. Jetzt war es wieder so weit, dass sie gestehen musste, dass sich ein Typ von ihr getrennt hatte. Sie würde wieder tröstende Umarmungen und leere Durchhalteparolen zu hören bekommen. Am schlimmsten waren immer jene, die meinten, er sei ja sowieso ein Arsch gewesen. Das hätten sie dann ja vielleicht auch mal sagen können, bevor er ihr Herz gebrochen hatte.

Lisa steigerte sich in den Ärger über die nähere Zukunft hinein und das beruhigte sie. Wut war immerhin direktional. Wut war expressiv. Trauer war nur lähmend. Trauer war wie ein zu schwerer Rucksack, der einem am Boden hält, obwohl man doch so gern fliegen mochte.

Lisa und Tommy konnten es in dem Moment nicht wissen, doch die Gedanken, denen sie in diesen Momenten nachjagten, würden die letzten in ihrem Leben gewesen sein. Am darauffolgenden Tag würde man ein Foto des komplett zerstörten Hauses zusammen mit der Geschichte von Freddy Eisenbauer in der Zeitung finden. Der berentete Hobby-Pilot hat heute von dem Tod seines lebenslangen besten Freundes erfahren und daraufhin versucht, seine Trauer in den Alkoholresten aus seiner Wohnung zu ertrinken. Durch den Wunsch getrieben, Abstand von allem zu gewinnen und auf andere Gedanken zu kommen, war er zum Flugplatz gefahren und in seine Maschine gestiegen. Kurz nach dem er in der Luft war, zeigten die selbstgebrannten Alkoholika jedoch ihre Wirkung und Freddy fiel in Ohnmacht. Unfähig, das Flugzeug zu steuern, segelte es ein Weilchen friedlich über den Himmel von Wettin bis es von einer Windböe getroffen das Gleichgewicht verlor. Es begann zu trudeln und stürzte ungebremst in die Walter-Meiß-Straße 28 und riss all seine Anwohner in den Tod.

4 Tote, 20 Sätze in der Zeitung. Ein Lebensende, das ohne Sinn und Bedeutung bleibt.

Wir jagen die Sonne

Leerer Raum

„Wolkenmeer, komm nicht her. Ich mag die Sonne doch viel mehr. Gutes Wetter, Sonnenschein. So sollen alle Tage sein.“

Alte Wortspielereien zu lesen, versetzte ihn immer wieder in ein merkwürdiges Gefühl zwischen Stolz und leichter Beschämung. Er selbst mochte die Sätze ganz gern, wie sie da zu Papier gefunden hatten, aber niemals würde er sie anderen aufzwingen wollen.

Er klappte sein altes Sketchbook zu und schaute in die Leere seiner Wohnung. Der Umzug war nun fast abgeschlossen, nur sein alter Schuhkarton mit den kostbarsten Erinnerungen trennte die Wohnung nun noch vom optimalen Übergabezustand. Er verspürte eine leichte Wehmut, wenn er an all die Ereignisse dachte, die er hier erlebt hatte: Der Gewinn der WM 1990, den sie bis in die Morgenstunden gefeiert hatten; die Geburt seiner ersten Tocher, die so plötzlich kam, dass sie es nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft hatten. Und schließlich, vor gerade mal einer Woche, der Anruf der Polizei, die ihn darüber informierte, dass seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Augenzeugen zufolge habe sie auf der Mitte der Kreuzung die Orientierung verloren und wurde in ihrer Starre von einem unachtsamen Autofahrer erfasst. Sie starb direkt am Unfallort. „Immerhin musste sie nicht leiden“, dachte er sich und seufzte.

Während er in Gedanken verloren in die leeren Räume seiner Vergangenheit schaute, betrat seine Tochter schweigend die Wohnung. Sie stellte sich neben ihn und legte ihre Hand vorsichtig auf seine Schulter. „Bist du soweit?“, fragte sie leise, fast flüsternd. „Mhm.“, bejahte er murrend. Sie setzen sich langsam in Bewegung. Ihm lief eine Träne über die Wange, als er realisierte, dass er nie wieder einen Fuß in die Wohnung setzen würde, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte. Nun würde er das letzte Mal ein neues Kapitel beginnen, dachte er.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte seine Tochter, fast rechtfertigend: „Wir haben doch aber ein schönes Altersheim ausgesucht“, und wandte sich ab, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Er blieb stumm und ein letzes Mal auf der Türschwelle stehen. Er blickte zurück und dann, ganz langsam, schloss er die Tür und folgte seiner Tochter ins Auto.

Die Weite des Nichts

white square

Nichts ist weiter als das Nichts. Das ist die erste und letzte Zeile des Gedichts, mit dem dein großer Traum zerbricht.

Nichts ist weiter als das Nichts. Das erkennst du immer dann, wenn du mal wieder an einer Herausforderung zerbrichst.

Nichts ist weiter als das Nichts. Denkst du resigniert, wenn dir das Leben deine Karten wiedermal neu mischst.

„Nichts ist weiter als das Nichts.“ steht auf dem Stein gegenüber mit rotem Edding geschmiert. Wie es dahin gekommen ist, weißt du nicht. Wer dafür verantwortlich ist, weißt du nicht. Und dennoch – oder vielleicht sogar gerade deswegen – kannst du deinen Blick nicht davon loslösen. „Nichts ist weiter als das Nichts.“, was soll dir das sagen? Die Nachricht ist für dich bestimmt, das ist so gut wie klar. Seit 5 Jahren schon kommst du jeden Tag wieder an diese Stelle, sitzt hier von früh bis spät und versuchst dir einen Reim aus der Welt zu machen. Seit 5 Jahren das immer gleiche Ritual: Du stehst auf, blickst neben dich und stellst mit schwerem Atem fest, dass das alles kein Traum war. Sie ist weg und sie wird nie wieder da sein. Sie war die Liebe deines Lebens, doch dann – ganz plötzlich – hat sie sich das Leben genommen. 

Seit dem sie verstorben ist, hast du von Zeit zu Zeit versucht, dich auf neue Frauen einzulassen, doch nie wollte es so recht klappen. Niemals hattest du das Gefühl, jemanden zu treffen, der wirklich auf deiner Wellenlänge ist. Niemals war da jemand, der dich inspiriert oder gefordert hätte – so wie sie das bis zum Tag ihres Todes getan hatte. Selbst Minuten vor ihrem Ableben hatte sie dir eine kryptische Aufgabe gegeben: „Ich glaube, ich habe es verstanden. Auf einmal ergibt das alles Sinn. Versprich mir, erst aufzuhören zu suchen, wenn du das Gleiche von dir sagen kannst. Ich glaube an dich. Ich liebe dich.“

20 Minuten später erhieltest du den Anruf der Polizei. Passanten hatten berichtet, sie sei mit einer ausgeglichenen Ruhe und einem friedfertigen Lächeln im Gesicht zu den Klippen spaziert, um sich dort mit ausgebreiteten Armen in die Fluten des Atlantiks zu stürzen.

Seit diesem Tag hat sich dein Leben verändert. Du wusstest, dass sie glücklich war bis zum Ende. Du wusstest nicht, was sie angetrieben hatte, sich das Leben zu nehmen; doch du wusstest, sie hätte es niemals getan, wenn sie keinen Grund gehabt hätte.

In den ersten Tagen nach dem Tod bist du immer in das Diner bei den Klippen gegangen. Du hast dich auf den Platz gesetzt, von dem du die grasbedeckte Absprungsfläche sehen konntest. Irgendwie war es als wärst du ihr ein bisschen näher, wenn du dort warst. Und so kam es, dass der tägliche Besuch des Diners zu einer Selbstverständlichkeit geworden war.

Und jetzt das: „Nichts ist weiter als das Nichts.“. Ausgerechnet auf der Seite des großen Steins, den man nur von deinem Platz des Diners sehen kann. Du schaust gedankenverloren rüber zur Bedienung, eine gestresste Mitfünzigerin, die das Diner alleine führte, seit dem ihr Mann vor 2 Jahren mit einer jungen Isländerin durchgebrannt war. „Was gibt’s Pete? Du schaust noch nachdenklicher aus als sonst.“ – „Es ist nur diese Nachricht auf dem Stein. Hier steht ‚Nichts ist weiter als das Nichts‘, das ist komisch.“ – „Ach, das war bestimmt nur wieder einer dieser verwirrten Jugendlichen, der sich für besonders schlau hielt. Seit dem das Mädel hier von der Klippe gehopst ist, sind ja alle ein wenig sentimental.“

Du zuckst zusammen. Du mochtest Rita. Im Laufe der Zeit hatte sich fast so etwas wie eine Freundschaft zwischen euch entwickelt. Doch du hattest ihr nie davon berichtet, warum du jeden Tag wiederkommst und warst froh, nicht von noch einem Menschen mehr mit diesem mitleidigen Blick angeschaut zu werden. Du sagtest noch etwas in die Richtung, das sie bestimmt recht habe und wandtest dich wieder deinen Gedanken zu.

„Nicht ist weiter als das Nichts.“ Du denkst an einen riesigen weißen Raum, der so groß ist, dass du nicht mal mehr siehst, dass es ein Raum ist. Du schreitest in Gedanken durch diesen Raum und suchst die Tür, die dich nach draußen führt. Versuchst herauszufinden, was sich um den Raum herum befindest. Doch während du so läufst, weißt du plötzlich nicht mehr, in welche Richtung du gehen sollst. Warst du hier schon einmal? Bist du jetzt im Kreis gelaufen? Du hast deine Orientierung mittlerweile komplett verloren und fühlst dich wie gefangen in deinen Gedanken. Du bemerkst, dass du deine Augen geschlossen hast, als du die Vorstellung dieses sonderbaren Raumes betreten hast und du schaffst es nicht, sie wieder zu öffnen. Du bist panisch, aber versuchst durchzuatmen und zu verstehen, was das alles zu bedeuten hat. Ein riesiger weißer Raum, der sich nicht verändert, egal in welche Richtung du läufst. Ein weißer Raum, dem du egal bist und der ganz genau weiß, dass du ihn nicht verändern kannst. Der nicht verändert werden will und sehr zufrieden damit ist, so weiß und leer zu sein. Egal in welche Richtung du läufst, du wirst niemals ein zufriedenstellendes Ende finden. Du kannst nichts ausrichten in diesem Raum, egal wie sehr du es versuchst. Also bleibst du stehen. Warum versuchen, wenn du ohnehin keinen Einfluss nehmen kannst? Warum bewegen, wenn Bewegung doch offensichtlich eine Illusion ist?

Du wirst ruhiger und hältst inne. Langsam, ganz langsam versuchst du deine Augen zu öffnen. Du bist geblendet von dem Licht um dich herum, das nun zunehmend auf deine Augen trifft. Du schaust dich um und versuchst dich zu orientieren. Du siehst die weißen Wolken draußen am Himmel, die weißen Felsen und die weißen Strände rechts in der Ferne. Du siehst die weiße Tischdecke auf deinem Tisch und die weiße Theke des Diners. Du siehst die weiße Speisekarte und die weiße Schürze von Rita. Du schaust nach draußen und versuchst etwas Farbe zu finden, doch zum ersten Mal in deinem Leben fällt dir auf, wie weiß hier alles ist: da links siehst du dein Auto, kurz dahinter das weiße Ortseingangsschild, rechts die weißen Häuser der Stadt und selbst das Meer erscheint weiß durch die Spiegelung der Sonnenstrahlen. Dein Leben ist der weiße Raum deiner Gedanken. Der weiße Raum in dem es egal ist, was du tust, weil es doch keinen Unterschied macht.

Du schaust auf den Stein vor deinem Fenster und stellst überrascht fest, dass der Satz scheinbar von weißer Farbe überpinselt wurde. Du erkennst es nun: Nichts, was du hier tust, macht irgendeinen Unterschied. All die Plackerei, die du jeden Tag durchmachst ist umsonst. Ist das wirklich die Lösung? Genau das hatte sie auch erkannt: dass nichts einen Unterschied macht. Dass das Leben eine Illusion ist und unerträglich lang empfunden wird,  weil im Endeffekt nichts dabei herumkommt. 

Du lächelst. Du schaust auf die Klippe und fasst einen Entschluss. Du stehst auf und lässt das Geld für Rita liegen. Du gehst auf die Straße und auf die Klippen zu. Du atmest ruhig und lächelst friedfertig während du zu den Klippen spazierst. Vorne angekommen schaust du noch ein letztes Mal zurück und dann richtest du deinen Blick gen Himmel. „Ich liebe dich“, sagst du nun sanft, fast flüsternd. Du schließt die Augen und lässt dich fallen.

Die Kunst einen schlechten Text zu schreiben

man in train

Es war einmal. Im Laufe des Tages, als ich mich fragte, ob es sich lohnt, besonders zu sein. Es war einmal, als ich aus dem Fenster schaute und aus der Verspiegelung las, dass nichts so durchschaubar ist wie Glas. Dennoch spiegeln sich die verzerrten Fratzen der Leute wie kleine Abbilder darauf wieder. Niemand schafft es frei von Zweifeln zu sein. Wenn man müde ist, kann man sich auch selten von der Bettdecke befreien, aber so einfach ist es nun doch wieder nicht.

Kennst du das, wenn man ganz viel will, aber nur ganz wenig kann? Wenn man Ideen in sich trägt, aber sie nicht vollenden kann? Kennst du dieses Gefühl der inneren Zerissenheit, wenn das, was du tust, nicht ausreichend dafür ist, deine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen? Warum gibt es keine Wörter für solche Gefühle? Dystiphoria. Legnaphisie. Die Buchstaben wären doch da. Nur der Wille, daraus beschreibende Überbegriffe zu formen, scheint zu fehlen. Ist es so, dass das Leben weniger anstrengend ist, wenn man nicht allem einen Namen gibt? Ist es nicht so, dass einem Worte Halt geben, einem selbst helfen, zu verstehen, was für ein Problem man eigentlich hat?

Wenn der Schreiner um die Ecke kommt, schaut er sie sich dann fachmännisch an?
Wenn der Metzger ein Haar in der Suppe findet, denkt er dann an die Schambehaarung seiner Lieblingskuh?
Wenn der Förster den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, ist er dann bereit für die Psychiatrie?
Wie ist es um die geistige Verfassungen eines Halsabschneiders bestellt, wenn er realisiert, dass dabei auch der Kopf verloren geht?
Gibt es nicht generell nur sehr wenige Situationen, in denen man mit Steinen werfen sollte?
Wird der Posten für die Schere zwischen Arm und Reich eigentlich vererbt oder gibt es Bewerbungen, bei denen immer eine größere gesucht wird?
Warum gibt es Universitäten, wenn probieren doch so viel besser ist?

Wer kam darauf, dass es keine dummen Fragen gibt?

Manchmal stellt man sich Fragen, die einen plagen. Manchmal gesellt man sich zu Menschen, von denen man weiß, dass sie einem nichts gutes tun. Der Mann mir gegenüber hat gerade an seinem Laptop gerochen und dennoch tue ich so, als wäre nichts außergewöhnliches passiert. Will ich ihn oder mich nicht auffliegen lassen? Vorbeirauschende Bäume geben das Gefühl von Vorankommen, doch die Schweißperlen auf meiner Stirn lassen sich daran nicht stören. Leise kann ich im Hintergrund den Bahnschaffner hören, wie er durch die Musik auf meinen Ohren dringt und das Lied der nächsten Haltestelle zum Besten bringt.  

Ich schaue in die Ferne und frage mich, wie lange wohl die Freude über ein Graffito der eigenen Initialien bestehen bleibt. Die Infantilie pubertierender Erwachsener ist zuweilen interessanter als der von Versagensängsten geschwängerte Auftritt eines Comedians auf einer Bühne. An welchem Punkt beginnt man zu begreifen, dass nicht die Witze sondern seine eigene Figur Anlass zu Gelächter sind? Ist es dann schon zu spät, zu sagen, dass sei so gewollt und eigentlich arbeite man ja als Clown, von daher wäre das schon voll in Ordnung und man sei ja sehr glücklich, dass es so gut funktioniert hat. So zu tun, normaler Comedian zu sein, wäre natürlich Teil des Plans gewesen, ohne den es auf der Meta-Ebene einfach nicht so lustig gewesen wäre. Ach herrje, wo soll uns diese Versagensangst nur hinführen?

Während der Fluss der Gedanken langsam vor sich hinplätschert, wird mir klar, dass es immer die Ausnahmen sind, die unsere Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Als Beleg führe ich das süße Gefühl der Euphorie an, das immer dann entsteht, wenn die Antwort auf eine gestellte Frage „ausnahmsweise“ lautet. Wie das kribbelt, wie das Lust macht. 

Ein weiteres Mal lasse ich meinen Blick schweifen und kann mich gegen aufkeimende Fragen nicht wehren. Was bringt Werbung auf Güterwaggongs? Woher kommen eigentlich die ganzen Steine im Gleisbett? Wie viele Menschen kaufen wohl jetzt gerade einen neuen Fernseher? Wie viele schlagen gerade ihr Kind? 

Ich klappe meinen Laptop zu und fasse noch einmal zusammen:
Für manche Fragen ist wohl keine Antwort bestimmt.

Laying down

tired man

Ich bin so müde. Müde wie die Nacht, wenn sie morgens den Staffelstab an die Sonne weitergibt. Durchgespült von tausenden Nachtschwärmern und -jammerern. Müde wie ein Raver nach 2 Pillen und 72 Stunden Berghain. Vollkommen ausgebrannt und mit schwachen Erinnerungen an die letzten Tage. Dabei habe ich doch gar nichts gemacht.

Ich liege nur den ganzen Tag hier, treibe durch den Wind der Langeweile, der schon als laues Lüftchen zu überspitzt beschrieben wäre. Ich trudele von Bett zu Couch, zu Schreibtisch – mal kurz nach Entspannungsmöglichkeiten googeln – und wieder zurück. Essen finde ich auch immer noch irgendwo, sodass ich nicht kochen, nicht aufräumen muss. Man könnte meinen, es gibt nichts entspannteres als so einen Tagesablauf, doch fühle ich mich konstant unter Strom. Egal, was ich machen will, ich kann mich nicht darauf einlassen. Serien, Filme, Bücher, lineares Fernsehen, Videospiele – alles langweilt mich. Aber produktives Arbeiten oder irgendwelchen spaßigen Projekten nachgehen? Oh Gott, nein. Viel zu anstrengend. Ich muss mich vorher erstmal entspannen.

Sport! Sport habe ich doch früher immer gerne gemacht, aber irgendwie bin ich allein bei dem Gedanken daran so unfassbar erschöpft. Und dazu kommt dieses lästige Husten, damit kann ich mich sowieso nicht groß belasten. Das liegt bestimmt an den vielen Schimmelsporen in meiner Wohnung, die sich langsam in meiner Lunge absetzen und dann anfangen, zu wachsen. Ja, ja! Das hab ich früher mal gelesen, als >sie< noch in meinem Leben war und wir nicht glauben konnten, dass jemandem tatsächlich ein Baum in der Lunge wachsen kann. Welch ironisches Schicksal. Damals an dem Tag als wir uns Seifenblasen gekauft hatten und durch den Park gerannt sind. Die Erinnerung ist schön, aber die Vorstellung daran fühlt sich unheimlich.. anstrengend an.

Nein, nein. Zunächst einmal muss ich mich ausruhen. Morgen, oder vielleicht nach dem Wochenende, dann werde ich die Welt erobern. Ich werde einfach einmal anfangen, alles richtig zu machen und dann wird sich der Rest ergeben. Ich muss nur einmal anfangen. Aber richtig, nicht nur so ein bisschen. Sonst wird das nichts.
Doch das geht erst, wenn ich nicht mehr so erschöpft bin. Bis dahin hoffe ich, dass man nicht vor Langeweile sterben kann.


Er klappt sein altes Tagebuch zu. Faszinierend, wie sich die Dinge verändern können. Vor fünf Jahren war er noch in der absoluten Tiefphase seines Lebens. Heute war er der jüngste Milliadär und Firmengründer der Geschichte. Seine App „motivatiON“ hatte Menschen aus aller Welt geholfen, ihr eigenes Potential zu entfalten und ein erfüllteres Leben zu führen. Und in allererster Hinsicht hatte sie ihm einen Sinn und eine Richtung im Leben gegeben.

Und das alles nur, weil er irgendwann anfing den Verstand zu verlieren und in der Vorstellung versessen war, ein Roboter zu sein. Irgendwo musste doch der Schalter für das Glück und die Entspannung zu finden sein…