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Selbstmord

Die Weite des Nichts

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Nichts ist weiter als das Nichts. Das ist die erste und letzte Zeile des Gedichts, mit dem dein großer Traum zerbricht.

Nichts ist weiter als das Nichts. Das erkennst du immer dann, wenn du mal wieder an einer Herausforderung zerbrichst.

Nichts ist weiter als das Nichts. Denkst du resigniert, wenn dir das Leben deine Karten wiedermal neu mischst.

„Nichts ist weiter als das Nichts.“ steht auf dem Stein gegenüber mit rotem Edding geschmiert. Wie es dahin gekommen ist, weißt du nicht. Wer dafür verantwortlich ist, weißt du nicht. Und dennoch – oder vielleicht sogar gerade deswegen – kannst du deinen Blick nicht davon loslösen. „Nichts ist weiter als das Nichts.“, was soll dir das sagen? Die Nachricht ist für dich bestimmt, das ist so gut wie klar. Seit 5 Jahren schon kommst du jeden Tag wieder an diese Stelle, sitzt hier von früh bis spät und versuchst dir einen Reim aus der Welt zu machen. Seit 5 Jahren das immer gleiche Ritual: Du stehst auf, blickst neben dich und stellst mit schwerem Atem fest, dass das alles kein Traum war. Sie ist weg und sie wird nie wieder da sein. Sie war die Liebe deines Lebens, doch dann – ganz plötzlich – hat sie sich das Leben genommen. 

Seit dem sie verstorben ist, hast du von Zeit zu Zeit versucht, dich auf neue Frauen einzulassen, doch nie wollte es so recht klappen. Niemals hattest du das Gefühl, jemanden zu treffen, der wirklich auf deiner Wellenlänge ist. Niemals war da jemand, der dich inspiriert oder gefordert hätte – so wie sie das bis zum Tag ihres Todes getan hatte. Selbst Minuten vor ihrem Ableben hatte sie dir eine kryptische Aufgabe gegeben: „Ich glaube, ich habe es verstanden. Auf einmal ergibt das alles Sinn. Versprich mir, erst aufzuhören zu suchen, wenn du das Gleiche von dir sagen kannst. Ich glaube an dich. Ich liebe dich.“

20 Minuten später erhieltest du den Anruf der Polizei. Passanten hatten berichtet, sie sei mit einer ausgeglichenen Ruhe und einem friedfertigen Lächeln im Gesicht zu den Klippen spaziert, um sich dort mit ausgebreiteten Armen in die Fluten des Atlantiks zu stürzen.

Seit diesem Tag hat sich dein Leben verändert. Du wusstest, dass sie glücklich war bis zum Ende. Du wusstest nicht, was sie angetrieben hatte, sich das Leben zu nehmen; doch du wusstest, sie hätte es niemals getan, wenn sie keinen Grund gehabt hätte.

In den ersten Tagen nach dem Tod bist du immer in das Diner bei den Klippen gegangen. Du hast dich auf den Platz gesetzt, von dem du die grasbedeckte Absprungsfläche sehen konntest. Irgendwie war es als wärst du ihr ein bisschen näher, wenn du dort warst. Und so kam es, dass der tägliche Besuch des Diners zu einer Selbstverständlichkeit geworden war.

Und jetzt das: „Nichts ist weiter als das Nichts.“. Ausgerechnet auf der Seite des großen Steins, den man nur von deinem Platz des Diners sehen kann. Du schaust gedankenverloren rüber zur Bedienung, eine gestresste Mitfünzigerin, die das Diner alleine führte, seit dem ihr Mann vor 2 Jahren mit einer jungen Isländerin durchgebrannt war. „Was gibt’s Pete? Du schaust noch nachdenklicher aus als sonst.“ – „Es ist nur diese Nachricht auf dem Stein. Hier steht ‚Nichts ist weiter als das Nichts‘, das ist komisch.“ – „Ach, das war bestimmt nur wieder einer dieser verwirrten Jugendlichen, der sich für besonders schlau hielt. Seit dem das Mädel hier von der Klippe gehopst ist, sind ja alle ein wenig sentimental.“

Du zuckst zusammen. Du mochtest Rita. Im Laufe der Zeit hatte sich fast so etwas wie eine Freundschaft zwischen euch entwickelt. Doch du hattest ihr nie davon berichtet, warum du jeden Tag wiederkommst und warst froh, nicht von noch einem Menschen mehr mit diesem mitleidigen Blick angeschaut zu werden. Du sagtest noch etwas in die Richtung, das sie bestimmt recht habe und wandtest dich wieder deinen Gedanken zu.

„Nicht ist weiter als das Nichts.“ Du denkst an einen riesigen weißen Raum, der so groß ist, dass du nicht mal mehr siehst, dass es ein Raum ist. Du schreitest in Gedanken durch diesen Raum und suchst die Tür, die dich nach draußen führt. Versuchst herauszufinden, was sich um den Raum herum befindest. Doch während du so läufst, weißt du plötzlich nicht mehr, in welche Richtung du gehen sollst. Warst du hier schon einmal? Bist du jetzt im Kreis gelaufen? Du hast deine Orientierung mittlerweile komplett verloren und fühlst dich wie gefangen in deinen Gedanken. Du bemerkst, dass du deine Augen geschlossen hast, als du die Vorstellung dieses sonderbaren Raumes betreten hast und du schaffst es nicht, sie wieder zu öffnen. Du bist panisch, aber versuchst durchzuatmen und zu verstehen, was das alles zu bedeuten hat. Ein riesiger weißer Raum, der sich nicht verändert, egal in welche Richtung du läufst. Ein weißer Raum, dem du egal bist und der ganz genau weiß, dass du ihn nicht verändern kannst. Der nicht verändert werden will und sehr zufrieden damit ist, so weiß und leer zu sein. Egal in welche Richtung du läufst, du wirst niemals ein zufriedenstellendes Ende finden. Du kannst nichts ausrichten in diesem Raum, egal wie sehr du es versuchst. Also bleibst du stehen. Warum versuchen, wenn du ohnehin keinen Einfluss nehmen kannst? Warum bewegen, wenn Bewegung doch offensichtlich eine Illusion ist?

Du wirst ruhiger und hältst inne. Langsam, ganz langsam versuchst du deine Augen zu öffnen. Du bist geblendet von dem Licht um dich herum, das nun zunehmend auf deine Augen trifft. Du schaust dich um und versuchst dich zu orientieren. Du siehst die weißen Wolken draußen am Himmel, die weißen Felsen und die weißen Strände rechts in der Ferne. Du siehst die weiße Tischdecke auf deinem Tisch und die weiße Theke des Diners. Du siehst die weiße Speisekarte und die weiße Schürze von Rita. Du schaust nach draußen und versuchst etwas Farbe zu finden, doch zum ersten Mal in deinem Leben fällt dir auf, wie weiß hier alles ist: da links siehst du dein Auto, kurz dahinter das weiße Ortseingangsschild, rechts die weißen Häuser der Stadt und selbst das Meer erscheint weiß durch die Spiegelung der Sonnenstrahlen. Dein Leben ist der weiße Raum deiner Gedanken. Der weiße Raum in dem es egal ist, was du tust, weil es doch keinen Unterschied macht.

Du schaust auf den Stein vor deinem Fenster und stellst überrascht fest, dass der Satz scheinbar von weißer Farbe überpinselt wurde. Du erkennst es nun: Nichts, was du hier tust, macht irgendeinen Unterschied. All die Plackerei, die du jeden Tag durchmachst ist umsonst. Ist das wirklich die Lösung? Genau das hatte sie auch erkannt: dass nichts einen Unterschied macht. Dass das Leben eine Illusion ist und unerträglich lang empfunden wird,  weil im Endeffekt nichts dabei herumkommt. 

Du lächelst. Du schaust auf die Klippe und fasst einen Entschluss. Du stehst auf und lässt das Geld für Rita liegen. Du gehst auf die Straße und auf die Klippen zu. Du atmest ruhig und lächelst friedfertig während du zu den Klippen spazierst. Vorne angekommen schaust du noch ein letztes Mal zurück und dann richtest du deinen Blick gen Himmel. „Ich liebe dich“, sagst du nun sanft, fast flüsternd. Du schließt die Augen und lässt dich fallen.